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Gesellschaft CJZ Minden e.V.

Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Minden e.V.

 

Avrom Sutzkever und Chawa Rosenfarb: Jiddische Sprache und Überleben in den Ghettos Wilna (Vilnius) und Lodz

Musikalisch-literarische Spurensuche
mit Caroline Vongries und Josefin Rabehl

08. November 2025

Kleines Theater - 18.00 Uhr
Am Weingarten, Minden


Geh über Wörter wie über ein Minenfeld: Ein falscher Tritt und alle Wörter, die du ein ganzes Leben lang auf deine Adern aufgezogen hast, werden zerfetzt, und du mit ihnen ... So erlebt der Schriftsteller Abraham „Avrom“ Sutzkever die Nacht, in der ihm und seiner Frau Frejdke die Flucht aus dem Ghetto von Wilna (Vilnius) gelingt. Erst spät hat er die jiddische Sprache und Kultur kennen und lieben gelernt – „Sprache eines Lebens, das sich dem Tod nicht unterwerfen wollte“. Ihn hielten das Schreiben, seine Worte, die er teils tagelang im Versteck liegend fand, Augen- und Ohrenzeuge der Shoah, am Leben. Er bleibt dem Jiddischen auch treu, als er nach Israel übersiedelt und es in Vergessenheit gerät. „Sutzkever is the greatest poet of the Holocaust“, schreibt die New York Times. Dennoch ist er hierzulande nicht allzu bekannt. . Zunächst hat er es auch entschieden abgelehnt, dass seine Worte in die Sprache der Mörder übersetzt würden. Ihm, seinem Umfeld, zu dem auch der Maler Marc Chagall mit seiner Familie gehört, sowie Chawa Rosenfarb, einer Dichterin des Ghettos von Lodz ist diese Spurensuche gewidmet, in der die Autorin Caroline Vongries Texte teils auf Jiddisch, teils in deutscher Übersetzung versammelt. Die Musikerin Josefin Rabehl stellt Lieder aus dem Ghetto dazu, u.a. des jüdischen Partisans und Poeten Hirsch Glik. Beraterin und Übersetzerin einiger Gedichte ist die Theologin Almut Seiffert.

Hintergründe: „Wir sind das Denkmal“

„Wi bajm baschitsn an eifl –?
ich lojf mitn jidishn wort,?
nishter in itlechn hejfl,?
der gajst zol nit wern dermordt.“

„– Wie einen zarten Säugling?
beschütz ich das jiddische Wort,?
schnuppre in jeden Berg Papier,?
rette den Geist vor Mord.“

Diese wenigen Zeilen aus Abraham Sutzkevers Gedicht „Weizenkörner“ sagen bereits Elementares über seinen Lebensweg, seinen Mut und seine Verdienste aus, auch über das Leid und darüber, was ihn im Ghetto Wilna (Vilnius) am Leben gehalten hat.
Sutzkever schrieb sein Leben lang auf Jiddisch, obwohl er selbst erst spät, mit 12 Jahren, begann, sich für die bereits ein Jahrzehnt später beinahe vernichtete tausend Jahre alte Sprache der aschkenasischen Juden zu interessieren. Eine Inspiration war dabei seine spätere Frau Frejdke Levitan, die am berühmten Jiddischen Wissenschaftlichen Institut in Wilna arbeitete (heute das YIVO New York), wo Sutzkever später selbst studierte.

Dass er und seine Frau das Schlachthaus, in das die deutschen Nationalsozialisten das einstige „Yerusholayim d'lite“, Jerusalem Litauens, verwandelt hatten, überlebten, ist ein Wunder. Sutzkever schrieb: „Mit Judensternstreifen auf unseren Leibern treibt man uns ins Ghetto. Es gehen die Gassen, die Häuser gehn mit, für immer verlassen.“
Zuvor war Wilna eines der bedeutendsten Zentren neuer (sprich aufgeklärter) jüdischer und jiddischer Kultur der damaligen Zeit. Sutzkever überlebte, indem er schrieb, und seine Begabung, Worte zu finden, wo es eigentlich keine Worte gibt, in den Dienst dessen stellte, was er sah. „Sing ich für Tote sing ich für Hunde?“ fragte er 1943 aus dem Ghetto heraus unter dem Titel „Gesang eines jüdischen Dichters“. Er wird Augenzeuge, Zeitzeuge, selbst Betroffener der entsetzlichsten Verbrechen, die er teilweise im Versteck liegend zu Papier bringt, später in einem Schwarzbuch protokolliert und vor den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen darlegt. Auch die Vergiftung des eigenen neugeborenen Sohnes unmittelbar nach der Geburt auf deutschen Befehl hin. Auf einem vorbeifahrenden Wagen mit den Schuhen ermordeter Jüdinnen und Juden erkennt Sutzkever die seiner Mutter:

„Die Räder jagen, jagen,
was tragen sie mir zu?
Sie bringen einen Wagen
Voll zuckender Schuh.“

Wer über die Familie Sutzkever spricht, darf nicht verschweigen, dass der Mörder ihres Erstgeborenen, von Sutzkevers Mutter und so vieler anderer jüdischer Männer, Frauen, Kinder, Franz Murer, der „Schlächter von Wilna“, zwar vor das Nürnberger Kriegsverbrechergericht gestellt und verurteilt, aber nach einigen Jahren in Haft wieder freikam und später 1963 in Österreich vom vielfachen Mord freigesprochen wird.

Zu Sutzkevers Verdiensten um die jiddische Kultur gehört es, dass er nach seiner Auswanderung nach Israel die Zeitschrift „Di goldene kejt“, „Die goldene Kette“ gründet und damit anderen jiddischen Autor:innen die Möglichkeit gibt, sich in dieser Sprache auszudrücken. Zu diesen Autorinnen gehört auch Chawa Rosenfarb, die das Ghetto von Lodz und das Vernichtungslager Bergen-Belsen überlebt und nicht nur über die Zerstörung des Judentums in Lodz schrieb („der boim fun leben“ – „der Baum des Lebens“), sondern in den 1960er Jahren auch über das Wilnaer Ghetto und den dortigen Partisanenführer Jitchak Wittenberg („der foigl fun geto“ – der Vogel des Ghettos“). Die Texte beider ermöglichen einen direkten Blick auf die Shoah, aber auch auf das Leben danach:
Chawa Rosenfarb fasst ihren Zustand nach ihrer Befreiung aus Bergen Belsen und knapp überlebter Typhuserkrankung in folgende Worte: „Es ist vorbei. Die Freiheit ist gekommen. Sie hat ein prosaisches Gesicht. Keiner ist vor Freude gestorben. Keiner hat vor Begeisterung den Verstand verloren. Mit so vielen Tränen haben wir von ihr geträumt, mit so viel Lächeln die Sehnsucht nach ihr umrankt. Jetzt steht sie wie eine Bettlerin vor uns. Wir haben ihr nichts mehr zu geben.“
„Wir sind das Denkmal, das wird nicht verschwinden“, schreibt Abraham Sutzkever Jahre nach der Shoah.

Caroline Vongries ist Buchautorin, Journalistin und leitet Schreibwerkstätten. Die Literaturwissenschaftlerin und Romanikpreisträgerin hat sich zunächst vor allem mit Frauenbiografien beschäftigt, zunehmend aber steht in ihren Büchern und Lesungen auch ein neuer Blick auf bekannte Persönlichkeiten (Karl Marx, Franz Kafka) und das Zusammenwirken von Frauen und Männern im Fokus. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten baut sie das alte Polchower Pfarrhaus im Landkreis Rostock (Wardow) zu einer Bildungs- und Kulturstätte aus. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, den Verbrechen des Nationalsozialismus, das Interesse für jüdisches Leben und Kultur, aber auch andere Kulturen des Nahen Ostens begleitet sie seit vielen Jahren. Die Beziehung von uns Menschen zur Natur ist ein Thema, das ihr zunehmend immer wichtiger wird. Sie ist in Aschaffenburg geboren, u.a. in Nordrhein Westfalen aufgewachsen, hat viele Jahre in Berlin und Sachsen-Anhalt gelebt und nun in Mecklenburg ein Zuhause gefunden.

Josefin Rabehl ist Musikerin, Songwriterin, Musikwissenschaftlerin und Musiklehrerin. Sie spielt Klavier und Gitarre und komponiert seit vielen Jahren eigene Lieder – zunächst für Kindermusicals und zunehmend eigene Songs. Sie ist in Sangershausen geboren und lebt in Halle, Sachsen-Anhalt.

Um Anmeldung wird gebeten über die Homepage der VHS www.vhs-minden.de
per E-Mail an programm@vhs-minden.de
oder telefonisch unter 0571 – 8376610 wird gebeten.